UN 3/2022
Der Russische Bär ist erwacht
Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.
Treibt man einen Bären in die Enge, wird dieser unweigerlich zum Angriff übergehen. Genauso verhält es sich mit dem Russischen Bären.
Nach der Auflösung des Sowjetimperiums und der Gründung der Russischen Föderation erbte Putin ein durch einen Alkoholiker heruntergewirtschaftetes, korruptes Land.
Im Jahr 2001 stand er vor dem Rednerpult des Deutschen Bundestages:
»Russland hegte gegenüber Deutschland immer besondere Gefühle. Wir haben Ihr Land immer als ein bedeutendes Zentrum der europäischen und der Weltkultur behandelt, für deren Entwicklung auch Russland viel geleistet hat. Heute erlaube ich mir die Kühnheit, einen großen Teil meiner Ansprache in der Sprache von Goethe, Schiller und Kant, in der deutschen Sprache, zu halten. [...]
Wir unterstützen die europäische Integration nicht einfach nur, sondern sehen sie mit Hoffnung. Wir tun das als ein Volk, das gute Lehren aus dem Kalten Krieg und aus der verderblichen Okkupationsideologie gezogen hat.«
Eine ausgestreckte Hand, die eine neues Zeitalter hätte einläuten können, die aber immer wieder zurückgeschlagen wurde, steckt doch die »westliche Wertegemeinschaft« bis heute im »Kalten Krieg« fest: Russland ist »das Böse«, die USA sind »die Befreier«.
Putin sah zu, wie die NATO 1999, mit Unterstützung durch die bundesrepublikanische Luftwaffe, völkerrechtswidrig die damalige Bundesrepublik Jugoslawien bombardierte. Putin sah zu, wie die NATO 2011 auf Seiten der Rebellen in den Bürgerkrieg in Libyen eingriff. Putin sah, wie 2017 US-amerikanische Truppen in den syrischen Bürgerkrieg eingriffen. Putin sah auch, wie US-Truppen mit ihren Vasallen den Irak und Afghanistan besetzten und deren unrühmlichen Abgang.
Überall, wo US-amerikanische Streitkräfte und deren Hiwis eingriffen, wurden (mit Ausnahme von Kuwait) verbrannte Erde und destabilisierte Länder hinterlassen.
Nach über 20 Jahren Regierungszeit und mit inzwischen modernisierten Streitkräften scheint es für Putin an der Zeit, die Sicherheitsinteressen Russlands, die in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung zugesagt und anschließend von der »westlichen Wertegemeinschaft« mit Füßen getreten wurden, einzufordern:
Wir haben in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen deutlich gemacht, dass wir die NATO nicht über die Elbe hinaus ausdehnen. Wir können daher Polen und den anderen keine NATO-Mitgliedschaft anbieten.
Wir haben gegenüber der Sowjetunion klargemacht ‒ bei Zwei-plus-Vier- wie auch anderen Gesprächen ‒, dass wir keinen Vorteil aus dem Rückzug sowjetischer Truppen aus Osteuropa ziehen werden.
Heute fahren US-amerikanische und andere NATO-Panzer quer durch Deutschland bis ins Baltikum oder auf den Balkan.
1995 verpflichteten sich die USA, Großbritannien und Russland, die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Ukraine zu achten.
1997 wurde eine »Charta über eine ausgeprägte Partnerschaft zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation [NATO] und der Ukraine« unterzeichnet. Ukrainische Kontingente beteiligten sich an den von der NATO geführten Kriegen in Jugoslawien, im Irak und in Afghanistan.
Tatsachen, die nicht wegzuleugnen sind und die das russische Sicherheitsgefühl beeinträchtigen.
Nun hat der russische Präsident nach der Annexion der Krim erneut Fakten geschaffen: Als hätte er die NATO-Feldzüge kopiert, greift er in den seit 2014 andauernden Bürgerkrieg auf Seiten der Aufständischen ein und lässt seine Bodentruppen in große Teile der Ukraine einmarschieren.
Ist ein solches Vorgehen in irgendeiner Weise gerechtfertigt? Eindeutig NEIN!
Ist ein solches Vorgehen völkerrechtswidrig? Eindeutig JA!
Hätte dieser Krieg überhaupt verhindert werden können? Eindeutig JA!
Man hätte mit dem Russischen Bären auf Augenhöhe verhandeln müssen, statt ihn an den Katzentisch zu verbannen. »Der Westen« lebt noch immer im 20. Jahrhundert, sehnt sich förmlich nach dem US-amerikanischen »Befreier und Beschützer« und glaubt tatsächlich, er sei der historische Gewinner der Geschichte und hätte damit das Recht, Russland jeder Zeit zu demütigen.